Gedanken und Texte zur Ermutigung in Corona-Zeiten 002

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

 

gute Lyrik besitzt die Gabe zur inhaltlichen und sprachlichen Verdichtung von Gefühlen, Beobachtungen, Überlegungen. Insbesondere die Schilderung und Deutung von im menschlichen Dasein letztlich unvermeidlichen Grenzerfahrungen wie Leid, Schmerz und Tod finden in herausragenden Gedichten einen allgemeingültigen und berührenden Niederschlag. Ich möchte eines meiner Lieblingsgedichte mit Ihnen teilen.

 

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

Edwin Ernst Weber

 

18. März 2020

 

 

Bitte

von Hilde Domin

Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden 

und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.  

Hilde Domin, Bitte.
Aus: dies., Gesammelte Gedichte.
Copyright: S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987

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Veröffentlichung

Herdwangen-Schönach
Do, 19. März 2020

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